Erste Textbegegnung

 
 
 

Vorüberlegungen

Eine erste Frage, die sich bei der Arbeit mit biblischen Texten ergibt, ist, in welchem Rahmen und mit welchem Ziel diese erfolgt. Setzen Sie sich im Verlauf einer universitären Veranstaltung erstmals mit den exegetischen Methoden auseinander und wollen Sie diesen Kurs mit einer Proseminar-Arbeit abschließen, dann stellt diese Ihren Bezugsrahmen zur Auseinandersetzung mit dem Text dar. Anders als in vielen anderen Situationen, in denen Sie auf exegetische Methoden zurückgreifen, hat die Proseminar-Arbeit den Anspruch, alle verfügbaren Methoden an einem Text anzuwenden, um Oberflächen- und Tiefenstruktur des Textes in vollem Umfang zu beschreiben.


Eine zweite für die folgende Arbeit zu klärende Frage ist, woher Sie den Text kennen. Ist dies Ihre erste Textbegegnung oder ist Ihnen der Text bereits aus früherer Zeit bekannt? Wenn Sie ihn bereits kennen, dann denken Sie darüber nach, wie Sie diesen Text bisher verstanden haben? Welche Aussageabsicht haben Sie in dem Text entdeckt, welche Botschaft haben Sie bisher aus dem Text entnehmen können?


Wenn Sie diese Fragen beantwortet haben, dann lesen Sie den Text nochmals langsam - vielleicht ja sogar laut, wie es in der Antike üblich war. Was fällt ihnen bei der Lektüre am Text auf? Welche Fragen ergeben sich für Sie? Was möchten Sie im Laufe Ihrer Arbeit über den Text herausfinden?


Nach diesem ersten Zugang machen Sie sich mit dem vertraut, was Generationen von Theologen vor Ihnen über diese Text gedacht haben. Natürlich könnten Sie, um dieses zu machen, eine erhebliche Anzahl an Abhandlungen zu einzelnen biblischen Texten lesen, die im Laufe der Jahrhunderte geschrieben wurden. Aber das würde den Rahmen eines ersten Textzuganges bei weitem übersteigen. Stattdessen empfiehlt es sich, auf Kommentarliteratur zu biblischen Schriften zurückzugreifen. Zum Neuen Testament bietet sich der Evangelisch-Katholische Kommentar (EKK) an, da er zu jedem Abschnitt des Neuen Testaments einen kurzen Passus über die Wirkungsgeschichte des Textes in den Epochen der Kirchengeschichte bietet. Ähnliches findet sich im noch im Entstehen begriffenen Herders theologischen Kommentar zum Alten Testament (HThKAT), doch liegen aus dieser Reihe noch nicht alle Bände vor. Beide Kommentarreihen finden Sie in den Universitätsbibliotheken. Erarbeiten Sie die Exegese im Rahmen einer schriftlichen Arbeit, dann referieren Sie die Auslegungstraditionen. Zeigen Sie dabei auf, auf welche Teile des Textes sich die Autoren bei ihrer Deutung beziehen. Damit wird Ihnen deutlich werden, dass häufig unterschiedliche Aspekte in den Fokus der Ausleger geraten sind.


Als Beispieltext dient in diesem Kurs die Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum in der Fassung nach Mt 8,5-13:


5Als er nach Kapernaum hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm und bat ihn 6und sprach: ,Herr, mein Sohn liegt gelähmt zu Hause, schrecklich gequält.‘ 7Er sagte ihm: ,Ich soll kommen und ihn heilen?‘ 8Der Hauptmann aber antwortete und sprach: ,Herr, ich bin nicht gut genug, dass du unter mein Dach kommst; nein, sag‘s nur mit einem Wort, so wird mein Kind gesund werden! 9Auch ich bin ja ein Mensch unter Befehlsgewalt und habe Soldaten unter mir. Sage ich diesem: ,Geh!‘, so geht er, und einem anderen: ,Komm!‘, so kommt er, und einem Sklaven: ,Mach das!‘, so macht er es.‘ 10Als aber Jesus das hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: ,Amen, ich sage euch: Bei niemandem habe ich so großen Glauben in Israel gefunden. Ich sage euch aber: 11,Viele werden von Osten und Westen kommen, und mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tisch lieben im Himmelreich; 12die Söhne des Reiches aber werden in die Finsternis draußen geworfen werden; dort wird Heulen und Zähneklappern sein.‘ 13Und Jesus sagte zum Hauptmann: ,Geh, es geschehe dir, wie du geglaubt hast!‘ Und der Sohn wurde in jener Stunde gesund. (Übersetzung aus Ulrich Lutz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8-17) (EKK I/2) Zürich / Braunschweig / Neukirchen-Vluyn 1990).


Die Wirkungsgeschichte: Die matthäische Erzählung vom Hauptmann von Kapernaum fand im Laufe der christlichen Theologiegeschichte nur an wenigen Stellen das Interesse der Interpreten. Zu Zeiten der Alten Kirche wurde der Text vor allem als Beispiel für besondere Demut des Menschen verstanden. Johannes Chrysostomus, Hieronymus und Strabo führen dies aus. In ihren Darstellungen wird der Hauptmann zu einer Identifikationsfigur für christliche Leser, denen die Autoren besondere Glaubensintensität vermitteln möchten. Der Glaubensgehorsam wird besonders von Johannes Chrysostomus (26,3f.) zu einem Modell christlichen Glaubens erhoben.

Diese Vorstellung wurde während der Reformationszeit wieder aufgenommen. Sowohl Luther (WA 38) als auch Calvin (Werke I, 251f.) zeigen an der Erzählung, was Glaubensgehorsam bedeutet. Beide fordern sie die Menschen ihrer Zeit, dem Beispiel des Hauptmanns zu folgen, um endzeitliches Heil zu erlangen.


Die exegetische Arbeit beginnt dort, wo eine erstmalige Textbegegnung mit dem Ziel, den Text historisch-kritisch zu betrachten, stattfindet.

Die Analyse findet Kontext gebunden statt. Sie ist ebenso mit der Situation verbunden, in der der Text ausgelegt werden soll, als auch mit der Deutung des Textes, die dieser im Laufe von 2000 Jahren Auslegungsgeschichte erfuhr. Die eigene Exegese steht in der Tradition christlicher Interpretation biblischer Texte. Das heißt für jeden Bearbeiter, sich der eigenen Situation, der verfolgten Zielsetzung und der mit dem Text prägenden christlichen Deutungstraditionen bewusst zu werden. Erst nachdem dem Exegeten die eigenen Voraussetzungen bewusst sind, kann er sich mit dem Ziel objektiver historisch-kritischer Beschreibung an den Text machen. Es gilt also, die eigenen Vorerfahrungen und tradierten Deutungsansätze zu überwinden, um den Text als zeitbezogene Überlieferung eines oder mehrere Gläubiger im antiken Israel mit seinem Eigenwert für die Entstehungszeit erkennen zu können. Da biblische Texte zum Teil über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden sind, kann ein Text in seinen literarischen Schichten durchaus mehrere Entstehungszeiten, Zeitbezüge und damit auch theologische Grundaussagen haben.